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Roy Baumeister: Die Macht der Disziplin

Das Buch „Die Macht der Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können“ von Roy Baumeister (Psychologie-Professor an der Florida State University) und John Tierney (Wissenschaftsredakteur der New York Times) ist mehr als ein weiteres Buch zum Thema Selbstoptimierung. Es geht um Fragen, die sich fast jeder schon mal gestellt hat: Wie kann man sich zum Sport motivieren? Wie setzt man Vorsätze um? Wie hält man eine Diät durch? Der Ausspruch „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“ von Ödön von Horváth (bekannt aus dem Lied von Udo Lindenberg) bringt es auf den Punkt. In einer Welt mit gefüllten Süßigkeitsregalen, virtuellen Unterhaltungsangeboten und vielfältigen Alltagsdrogen ist Disziplin lebenswichtig geworden.

Das Buch von Baumeister und Tierney lädt zu einer nüchternen und auch humorvollen Sichtweise auf menschliche Schwächen ein. Klar ist nur: Vorsätze sind viel fragiler, als man glaubt. Dies gilt nicht nur für Silvestervorsätze, sondern auch für kleine Alltagsentscheidungen.

Baumeister und Tierney sehen Willenskraft als biologische Ressource an, die aufgebraucht werden kann. Diese These lässt sich durch folgendes Experiment begründen: Zwei Testgruppen wurden in einen Raum geführt, in dem sich Schüsseln mit Radieschen und Süßigkeiten (Schokolade und Kekse) befanden. Der einen Testgruppe wurden die Radieschen zum Essen angeboten, der anderen die Süßigkeiten.

Bei einer anschließenden Denkaufgabe (ein unlösbares Rätsel) gaben Teilnehmer der Radieschengruppe durchschnittlich bereits nach 8 Minuten auf. Die Schokoladen-/Keks-Gruppe hielt 20 Minuten durch. Eine Kontrollgruppe ohne Speisen hielt ebenso lange durch (Baumeister/Tierney 2014: 34). Der Effekt wird als Ego-Depletion (engl. „ego deplation“) bezeichnet. Eine Metastudie, die ähnliche Experimente auswertet, ergibt einen Gesamteffekt von d = 0,62 (Cohens d), was als mittelstark gilt (Hagger u. a. 2010: 508).

Auch im Alltag gibt es Situationen, in denen Willenskraft „aufgebraucht“ wird: lange Arbeitstage, stressige Autofahrten oder schwierige Gespräche. In solchen Situationen werden Impulse unterdrückt und Entscheidungen gefällt.

Baumeister setzt den Effekt der Ego-Depletion mit einem Abfall des Blutzuckerspiegels in Verbindung. Der Blutzuckerspiegel sinkt bei Anstrengung der Willenskraft. Die Fähigkeit zur weiteren Selbstkontrolle nimmt ab.

Baumeister leitet aus seinen Untersuchungen zwei Kernthesen ab:

  1. Willenskraft wird für alle möglichen Aufgaben benötigt.
  2. Willenskraft wird durch Benutzung insgesamt geschwächt (2014:  55).

Baumeister und Tierney schlagen mehrere Techniken zur Vermeidung von Ego-Depletion vor. Sie empfehlen, mit der Ressource Willenskraft sorgsam umzugehen, z. B. durch Routinen und regelmäßige Pausen. Auch das Vermeiden von Versuchungen und gezieltes Training (Sport und Tracking, z. B. durch Apps) werden vorgeschlagen.

Baumeister und Tierney betonen die Wichtigkeit von Disziplin für den Lebenserfolg. Im Gegensatz zu klassischen Ratgebern sieht er Lebenserfolg eher als individuelle Angelegenheit, nicht als Werbeklischee.

Interpretation und Kritik

Insgesamt ist Baumeisters Buch vielleicht das beste zum Thema. Der Zusammenhang zum Glukosespiegel erscheint sehr wichtig. Es lädt aber zum Widerspruch ein, wenn Erschöpfung und Ego-Depletion gleichgesetzt werden.

Für Baumeister und Tierney ist die Korrelation von Ego-Depletion und Glukosespiegel zentral. Aber dies scheint keine vollständige Erklärung zu sein. Antike Tugendautoren wie Epiktet oder Plutarch würden sagen: Es kommt vor allem auf Erfahrung an, nicht bloß auf Energie.

Viele Untersuchungen belegen, dass sich körperliche Erschöpfung kognitiv auswirkt (Van Cutsem u.a. 2017). Baumeister erwähnt eine Studie, in welcher unausgeruhte Richter im Durchschnitt härter urteilten (2014: 70; Danziger (2011).

Die Gestaltpsychologie ging von der Hypothese aus, dass wir beim Betrachten der Umwelt sinnvolle Strukturen bevorzugt wahrnehmen. Die Wahrnehmung findet im Kopf statt. Etwas Ähnliches gilt vielleicht auch für Gewissensfragen. Das richtige Verhalten muss aktiv gesucht, gewichtet und erspürt werden. Im Zustand der Erschöpfung geht das Gehirn in einen Energiesparmodus über. Dies deckt sich mit der Glukosehypothese. Die Realität wirkt verzerrt. Wer weiß, dass er sich im Energiesparmodus befindet, kann noch kleine Entscheidungsspielräume nutzen. Manchmal besteht er darin, eine Pause zu machen. Bei der Disziplin geht es um das intelligente Reagieren, nicht bloß um das Durchhalten. Disziplin ist ein bewusster Umgang mit Schwächen.

Literatur

Baumeister, Roy; Tierney, John (2014): Die Macht der Disziplin. Wie wir unseren Willen trainieren. Jürgen Neubauer (Übers.). München: Goldmann.

Hagger, M. S.; Wood, C. M.; Stiff, C.; Chatzisarantis, N. L. D. (2010): Ego Depletion and the Strength Model of Self-Control: A Meta-Analysis. Psychological Bulletin, 136(4), 495–525.
Zur Studie

Van Cutsem, Jeroen; Marcora, Samuele M.; De Pauw, Kevin; Bailey, Stephen; Meeusen, Romain; Roelands, Bart (2017): The Effects of Mental Fatigue on Physical Performance: A Systematic Review. In: Sports Medicine, S. 123-134. DOI: 10.1007/s40279-016-0672-0.
Zur Studie

Danziger, Shai; Levav, Jonathan; Avnaim-Pessoa, Liora (2011): Extraneous Factors in Judicial Decisions. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, April 2011. DOI: 10.1073/pnas.1018033108.
Zur Studie